Beim HCS LiveTalk der Healthcare Shapers haben wir über Hürden und Chancen digitaler Pflegeanwendungen mit Experten diskutiert. Mit dabei waren die beiden Pflegeexpertinnen Miriam Moser (3), sie ist Top Voice auf LinkedIn, Julia Backhaus (4), die im Pflegeumfeld selbst gegründet hat und in diesem Marktsegment auch Startups berät, sowie der Experte für digitale Medizinprodukte, Oliver Hilgers (5), der aktuell Unternehmen auf dem Weg ins DiPA-Verzeichnis begleitet.
Was ist eine DiPA?
(gemäß § 78a SGB XI?, 6)
- Eine DiPA kann, muss jedoch kein Medizinprodukt der Risikoklasse I oder IIa sein.
- beruht wesentlich auf digitalen Technologien (Software), sie vermittelt einen pflegerischen Nutzen
- Die DiPA kann von Pflegebedürftigen allein oder von Pflegebedürftigen in Interaktion mit Angehörigen, sonstigen ehrenamtlich Pflegenden und zugelassenen Pflege- oder Betreuungsdiensten genutzt werden
- Sie kann auch bei der Haushaltsführung unterstützen
- Die DiPA dient der Unterstützung der Pflegebedürftigen ausschließlich im häuslichen Kontext
Mit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) am 09.06.2021 wurden digitale Pflegeanwendungen (DiPA) in die ambulante Pflegeversorgung eingeführt. Sie sind ausgerichtet auf das häusliche Pflegeumfeld, sie adressieren das sog. "pflegerische Dreieck“ aus pflegenden Angehörigen, den Pflegebedürftigen und den ambulanten Pflegediensten. „Alle sind extrem stark belastet und wären offen für Unterstützung. Sie alle wissen nichts über das neue Angebot digitaler Pflegeanwendungen,“ beschreibt Miriam Moser den derzeitigen Status Quo. Kein Wunder, sind DiPAs im Moment nicht mehr, als ein vages Versprechen auf Hilfe, denn im Markt kommt nach wie vor nichts an.
Die Versorgungssituation in der Pflege ist sehr komplex. „Es gibt verschiedene Pflegegarde, viele Komorbiditäten.Man muss sich sehr genau überlegen, welche Zielgruppe man angeht,“ betont Oliver Hilgers. Er rät DiPA-Herstellern sich deshalb auf die niedrigen Pflegegrade zu fokussieren, um die vom Gesetzgeber geforderte „pflegebedürftigkeitsgerechte“ Nutzbarkeit überhaupt sicherstellen zu können. „Je schwieriger die Nutzerzielgruppe, je komplexer wird es mit dem Nachweis des pflegerischen Nutzens. Jede DiPA muss in Gebrauchstauglichkeitstests zeigen, dass sie auch bei eingeschränkten kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten entsprechend ihrer Zweckbestimmung funktioniert. Je heterogener die Zielgruppe, umso schwieriger wird dieser Nachweis. Ich halte z. B. den Fokus auf die Unterstützung bei kognitiven Einschränkungen oder Förderung der sozialen Interaktion für machbar, solche Anwendungen könnte es schaffen, ins DiPA-Verzeichnis aufgenommen zu werden.“
Was bedeutet "Pflegerischer Nutzen"?
- Ein vom BfArM neu eingeführter Begriff
- Der pflegerische Nutzen bezieht sich unmittelbar oder auch mittelbar auf die pflegebedürftige Person und ist in geeigneten Studien anhand entsprechender Endpunkte nachzuweisen. Endpunkte, die sich ausschließlich auf Pflegende beziehen, wie z. B. deren Arbeitslast, sind nicht geeignet, einen pflegerischen Nutzen nachzuweisen.
- Die untersuchten Endpunkte können in klinischen oder epidemiologischen Studien untersucht werden, aber auch nach Methoden anderer Wissenschaftsbereiche wie der Versorgungsforschung und der Sozialforschung konzipiert und durchgeführt werden. Die gewählte Methodik muss dabei adäquat zum gewählten Untersuchungsgegenstand sein.
- Der Hersteller muss die Gruppe von Pflegebedürftigen und sonstigen Nutzenden angeben, für die der pflegerische Nutzen nachgewiesen wurde.
Was heißt „Altersgerechte Nutzbarkeit“?
Auch dieser Begriff wurde im Zusammenhang mit DiPA neu eingeführt. Gemeint ist damit der mehrdimensionale Begriff der pflegebedürftigkeitsgerechten Nutzbarkeit im häuslichen Pflegesetting
- Die Nutzbarkeit muss auch bei eingeschränkten kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten, innerhalb des spezifischen Nutzungskontextes auch in einem Worst-Case-Szenario entsprechend der Zweckbestimmung sichergestellt sein.
- Eine entwicklungsbegleitende (formative) Evaluation sowie eine abschließende (summative) Validierung müssen dies belegen
Ein Hauptgrund, warum es noch immer keine DiPA gibt, ist aus seiner Sicht nicht der auf € 50 pro Monat festgesetzte Preis für eine DiPA. „Die verhandelten Preise von DiGAs liegen bei ca. 200 Euro für 90 Tage und liegen damit in etwas der gleichen Größenordnung, wie die 50 € pro Monat für DiPAs. Allerdings sind es die Pflegekassen, die über den Weg der Kostenerstattung für diese Anwendungen bezahlen,“ d. h. die Auslagen für die DiPA werden eingereicht und dann erstattet, was den Prozess im Vergleich zu den Apps auf Rezept aufwändiger macht. Ein wesentlicher Unterschied ist auch, dass die maximalen 50 Euro nicht pro DiPA erstattet werden, sondern als Gesamtbudget pro Person zur Verfügung stehen. Wenn also eine weitere, komplementäre DiPA genutzt werden soll, werden die 50 Euro wahrscheinlich nicht reichen und die Differenz trägt dann der Anwender.
Markus Müller, der 2018 das Unternehmen NuiCare gegründet hat und selbst Anbieter einer Pflege-App ist (7), ergänzt: „Ich sehe den Preis auch nicht als Problem. Man muss die 50 € über die Anwendungsdauer sehen, d. h. wenn die DiPA dauerhaft genutzt wird, rechnet sich das schon. Ich bin in diesem Zusammenhang ein Freund von einem Pflegebudget, dann kann man je nach Situation aus einem Bündel von Möglichkeiten selbst wählen, ob man eine DiPA oder eben andere Unterstützungsleistungen im Pflegesetting in Anspruch nehmen will,“ kommentiert Markus Müller.
Viel problematischer sei es, dass es für DiPAs keine Möglichkeit gibt zur vorläufigen Listung. Es brauche dieses Setting aber, um Risiken für die Hersteller abzumildern. „Man muss einen Trend zeigen können, und erst danach macht es Sinn, eine große, klinische Studie aufzusetzen. Wenn der Nutzennachweis direkt erbracht werden muss, ist das mit einem viel größeren Risiko und Kostenaufwand für den Anbieter verbunden. Alles oder nichts! Das schreckt ab!“, erklärt Oliver Hilger.
Markus Müller weist auf eine weitere DiPA-Hürden hin: „Es wurde viel zu viel übernommen vom Konzept der DiGAs und einfach übergestülpt auf die DiPAs – das schafft Probleme. Denn man kann die medizinische Situation von Menschen mit chronischen Erkrankungen nicht mit dem Pflege-Setting vergleichen. Da gibt es mehrere Akteure, die zusammenspielen, damit eine Entlastung erreicht werden kann, und da geht es weniger um medizinischen Nutzen, sondern um Lebensqualität – der Angehörigen und des Pflegebedürftigen, es geht um Entlastung.“ Seine Forderung: Man müsse am grundsätzlichen Konzept Hand anlegen und den Fokus stärker auf Well-Being und Lebensqualität aller Beteiligten setzen. „Wir brauchen eine Kurskorrektur, So, wie der Marktzugang jetzt angelegt ist, ist er in weiten Teilen vom DiGA Fast Track "kopiert" und verfehlt seine Wirkung,“ weist Markus Müller (7) Gründer in seinem Statement als Teilnehmer beim HCS Live Talk hin.
Pflegebedürftigkeit sei eben keine chronische Erkrankung, sondern ein häufig progredientes Syndrom mit kognitiven, somatischen, psychosozialen, psychischen Symptomen. Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Pflegebedürftigkeit (8), das muss im pflegerischen Nutzennachweis besser mitgedacht werden und ist kaum in einem klinischen Studiensetting einer randomisierten, klinischen Studie abbildbar, sind sich die Experten beim HCS LiveTalk einig.
Prof. Till Winkler von der Fernuni Hagen (9), sieht ein großes Problem im Fehlen eines evaluatorischen Rahmens, der an die Spezifika von DiPAs angepasst ist. Dadurch entstünden Unsicherheiten, „Brauche ich z. B. eine randomisierte,, kontrollierte klinische Studie (RCT), welche Messinstrumente nutze ich, kann ich mit Real World-Daten (RWD) arbeiten, wenn ja mit welchen?“ Wenn validierte Messinstrumente fehlen, um die Evidenz wissenschaftlich sauber nachzuweisen, sei das Risiko zu scheitern, extrem hoch. Hier sei auch die Wissenschaft gefordert, geeignete Instrumente zu entwickeln.
Markus Müller hat über den Spitzenverband digitale Gesundheit beim BfArm deshalb auch einen Perspektivwechsel angestoßen. „Wer sind denn die Nutzer von DiPAs? Wir mussten Überzeugungsarbeit leisten, damit auch der Nutzen für die pflegenden Angehörigen in die Evaluation mit einfließen kann. Denn machen die Angehörigen die „Grätsche“, eskaliert die Versorgungssituation für Pflegebedürftige. Man muss den pflegerischen Nutzen deshalb deutlich breiter denken,“ ist sein Credo.
Welche Angebote werden DiPA-Landschaft prägen?
Er prognostiziert, dass sich DiPAs für ganz spezifische Anwendungsfälle etablieren werden und nicht als Tools im Rahmen komplexer Pflegesettings. Er nennt zwei Beispiele: „Digitale Hilfen, die das individuelle Sturzrisiko verringern – das ist ein klar begrenzter Abwendungsfall.“ Und auch die Dekubitusprophylaxe sieht er als Einsatzgebiet für eine DiPA. „Dekubitus ist ein verbreitetes Problem aber auch ein sehr gut eingrenzbarer Bereich innerhalb der Pflege!“ Er glaubt nicht, dass sich eine breite Auswahl an DiPAs entwickeln wird, denn vieles sei bei DiPAs ausgeschlossen.
Implementierung wird noch schwieriger als bei DiGAs
„Man braucht die Pflegekräfte als Fürsprecher, um Akzeptanz für die neuen digitalen Pflegeunterstützungen zu erhalten,“ betont Dr. Nina Althoff in ihrem Diskussionsbeitrag (11). Sie ist Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers und betont, wie wichtig es sei, die Pflegekräfte zu involvieren und dabei auch deren Emotionen mit zu berücksichtigen, zu fragen, wie es ihnen geht und deren Well-Being mehr in den Fokus zu rücken. „Durch die Vermittlerrolle der Pflegekräfte wachsen Vertrauen und Anerkennung für diese neuen, digitalen Unterstützungsformen.“
Aber: Die Fachkräfte ambulanter Pflegedienste sind auch eine schwer erreichbare, heterogene Zielgruppe. Die rund 17.000 ambulanten Pflegedienste (9), die die häusliche Pflege gemeinsam mit Angehörigen stemmen, sind über keinen Außendienst, keinen Verband oder ähnliches gebündelt erreichbar, gebahnten Kommunikationskanäle fehlen. Deshalb wird die Integration von DiPAs in die Prozesse vermutlich noch schwieriger werden, als wir das aktuell bei den DiGAs sehen.
Julia Backhaus, selbst Gründerin eines Pflege-Startups und Beraterin von Pflegeeinrichtungen, die mit telemedizinischen Angeboten die Versorgungssituation in Alten- und Pflegeheimen verbessern wollen, unterstreicht das in ihrem Statement: „Den Pflegemarkt mit digitalen Lösungen zu erreichen, das braucht einen langen Atem und entsprechende Ressourcen, das können vermutlich nur noch die ganz Großen leisten, z. B. Player, die bereits eine DiGA haben. Sie überlegen sich, wie sie skalieren und dabei den riesigen Pflegemarkt erreichen können. Das kann z. B. eine DiGA für Depression sein, die die Unternehmen dann z. B. auf den DiPA-Markt adaptieren…,“ erklärt die Expertin.
DiPA – Speerspitze einer Qualitätsoffensive in der häuslichen Pflege
„Wenn wir mit DiPAs die Parameter erfassen, die die Perspektive der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen beschreiben und dazu sog. PROMs (Patient-reported outcome measures) und PREMs (Patient-reported experience measures) nutzen, können wir vermutlich besser einschätzen, wie die Pflegesituation wirklich aussieht. Wir sehen, wo es hakt, wo wir mehr Unterstützungsangebote brauchen, und was verändert werden muss, damit sich die Situation im häuslichen Pflegeumfeld für die Betroffenen und ihre Angehörigen insgesamt verbessern kann. Im Moment ist das in weiten Teilen leider eine Black-Box, die Last liegt auf den Schultern der Angehörigen, die keine Lobby haben. DiPAs könnten ein zentrales Element werden für eine datengestützte Qualitätsoffensive in der häuslichen Pflege und damit entscheidend werden für die Zukunft der Pflegeversorgung in Deutschland“, betont Dr. Ursula Kramer die strategische Dimension von digitalen Pflegeanwendungen.
DiPA-Listung: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt?
Der Appell zum Schluss: „Jetzt einsteigen, die Vergütung ist gar nicht so schlecht, und wir haben das im DiGA-Prozess schon gesehen: Die ersten haben es leichter, die Behörde zu Beginn sicherlich ein sorgfältiges aber immer noch anderes Augenmaß als später, wenn mehr Erfahrung vorliegt. Zudem steigt der politische Druck, dass endlich digitale Pflegeanwendungen zur Unterstützung für Patienten und deren Angehörigen verfügbar werden. So gering wie jetzt, werden die Hürden vermutlich nie wieder sein,“ motiviert Oliver Hilgers potenzielle DiPA-Hersteller.
„Wir brauchen einen DiPA 2.0 Ansatz, der den pflegerischen Nutzen weiter fasst und die Angehörigen mit einbezieht. Wir brauchen integrierte Konzepte, die die Pflegewirklichkeit im Dreieck aus Angehörigen, Pflegediensten und zu Pflegende besser adressieren,“ so Miriam Moser. Und wir brauchen mehr Unterstützung von Seiten des BfArm mit der Möglichkeit einer vorläufigen Listung auch für DiPAs sowie mit gangbaren Konzepten zur Evaluation mit validierten Messinstrumenten für die valide Erfassung des pflegerischen Nutzens. Die Nutzung von Real World Daten und die Einbeziehung von Outcome-Parametern (PROMs), die relevant sind für Patienten und Angehörige, könnte dazu beitragen, den Blick auf die Belastungssituation im häuslichen Umfeld zu optimieren. Auf dieser Basis lassen sich besser als biher auch Maßnahmen zum Schutz der Pflegenden vor Überforderung entwickeln. Ohne Kurskorrekturen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bleiben die DiPA-Regale aber vermutlich weiter leer, so der Tenor der Diskussionsrunde.
Vielen Dank an die Experten
Neben Julia Backhaus, Unternehmerin aus dem Bildungsbereich und Pflegeexpertin, Miriam Moser Dozentin für Digitalisierung in Medizin und Pflege,sowie Oliver Hilgers, Experte für digitale Medizinprodukte, haben folgende Diskussionsteilnehmer mitgewirkt: Dr. Nina Althoff, Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers, Markus Müller Co-Founder und CEO von Nui Care, und Prof. Till Winkler von der FernUniversität Hagen.
Moderiert wurde der Call von Dr. Ursula Kramer, Digital Health Expertin und Mitglied des Management Board der Healthcare Shapers, die sich u. a. auch ehrenamtlich engagiert im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung sowie Günther Illert, der vor mehr als 10 Jahren das Netzwerk der Healthcare Shapers gegründet hat und als Workshop Moderator u. a. digitale Transformationsprozesse von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft begleitet.
Quellen
- DiPA-Verzeichnis: https://www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/Aufgaben/DiGA-und-DiPA/DiPA/_node.html
- Schwinger, A., Jürchott, K., Tsiasioti, C. et al. Epidemiologie der Pflege: Prävalenz und Inanspruchnahme sowie die gesundheitliche Versorgung von Pflegebedürftigen in Deutschland. Bundesgesundheitsbl 66, 479–489 (2023). https://doi.org/10.1007/s00103-023-03693-5
- Miriam Moser https://www.linkedin.com/in/miriam-moser-a2a189a7/
- Julia Backhaus https://www.linkedin.com/in/juliabackhaus/
- Oliver Hilgers https://www.linkedin.com/in/oliver-hilgers-649309142/
- DiPA-Leitfaden https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/dipa_leitfaden.html
- Markus Müller, Gründer nui care https://www.linkedin.com/in/markuscmueller/
- Multimorbidität – eine besondere Herausforderung. Dtsch Arztebl 2020; 117(44): A-2092 / B-1780 https://www.aerzteblatt.de/archiv/216462/Multimorbiditaet-Eine-besondere-Herausforderung
- Pflegemarkt: https://www.pflegemarkt.com/fachartikel/marktanalyse-zahlen-daten-fakten-analyse-ambulant-2019/
- Prof. Till Winkler, FernUniversität Hagen https://www.linkedin.com/in/tillwinkler/
- Dr. Nina Althoff https://www.linkedin.com/in/dr-nina-althoff-65995331/
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