Aber warum begleiten wir diese Projekte nahezu überall noch immer mit einem klassischen Change Management, das über Monate oder gar Jahre – oft sehr detailliert – vorausgeplant wird? Wie können wir die Veränderungen von vornherein einplanen, wenn doch das Vorgehen immer wieder im Projektverlauf angepasst wird? Müsste nicht auch das Change Management konsequenterweise agil gedacht werden?
Gedanke 1: Frühzeitig und kontinuierlich Mehrwert liefern
Viele von uns werden schon mehr als einmal elaborierte Change- und Kommunikationspläne gesehen haben, die sich über Monate und Jahre projektbegleitend erstrecken. Die meisten davon fokussieren auf Meilensteine oder Kosten, kaum auf den Mehrwert für den Mitarbeitenden. Ganz im Sinne eines agilen Vorgehens sollte man analog zum bewährten MVP-Ansatz ein Minimum Viable/Valuable Change (MVC) schaffen: Hier liegt der Fokus darauf, die (für einen bestimmten Zeitraum) wichtigste Botschaft für die wichtigsten Benutzer herauszufiltern und zu vermitteln. Je früher die ersten positiven Effekte kommuniziert werden, oder gar spür- und greifbar sind, umso besser stellen wir die Weichen für eine breite Unterstützung in der Belegschaft.
Gedanke 2: Iterative Irritationen statt Wasserfall
Oft wird flankierendes Change Management vor allem deswegen in Unternehmen eingesetzt, um anstehende Veränderungen in der Struktur von Organisationen oder ihren Prozessen zu begleiten. Das bedeutet, sie kommunikativ weich einzubetten, zu flankieren und als einen sanften Weg der Weiterentwicklung des Unternehmens darzustellen, bei der im Idealfall Rädchen nahtlos ineinander greifen bis wir im Zielbild angekommen sind. Ein „planbarer Change“ sozusagen.
„Change ist KEINE Reise“
In der Realität sind echte Transformationen aber vor allem viele Irritationen oder Störungeneines stabilen Systems (vgl. Niels Pfläging „Change als Flip“). Und jede einzelne Störung erfordert schon „im Kleinen“ immer aufs Neue, einen eingeschwungenen Zustand zu verlassen, eine Veränderung anzustoßen, diese zu etablieren und zu festigen (vgl. Kurz Lewin „Unfreeze, Change, Refreeze“). Aber jede dieser Veränderungen führt zu Reaktionen, die durch die Gesamtkomplexität nicht vorhersehbar sind. Auch sind diese längst nicht immer wieder in den Ausgangszustand zurückrollbar, sondern verändern normalerweise dauerhaft das System und die Interaktionen innerhalb der Organisation.
Mit diesem Bewusstsein kann man (und sollte man) aber um so mehr die Reaktionen der Mitarbeitenden nach jeder Irritation im System als wertvolles Feedback aufnehmen und vor allem in die nächsten Schritte einfließen lassen und dem agilen Gedanken getreu dann die nächsten Schritte planen und gehen – immer mit der engen Rückkopplung der Organisation.
Gedanke 3: Niemand ist gegen Change – aber alle sind intelligent
Wie gehen wir mit Widerständen bei Veränderungen um? Um diese Frage zu beantworten, hilft es, zunächst die Ursachen der Widerstände zu verstehen und einzuordnen. In den seltensten Fällen gibt es grundsätzliche oder prinzipielle Abwehrhaltungen. Menschen handeln bewusst und intelligent.
Allerdings folgen die Reaktionen fast nie auf die Veränderungen an sich – sondern nahezu immer auf die damit einhergehenden und implizit befürchteten persönlichen Veränderungen wie Macht- oder Statusverlust. Was individuell betrachtet, sowohl logisch als auch intelligent ist. In der Folge ist es also wesentlich, sich genau mit diesen Themen intensiv im Wandel auseinanderzusetzen und Lösungen anzubieten. Nur wer bereit ist, dies als Realität anzuerkennen, ist in der Lage, konstruktiv und bestmöglich mit diesen Reaktionen umzugehen.
„94% der Probleme im Business sind System-getrieben, nur 6% sind Menschen-getrieben.“
Edwards W. Deming
Gedanke 4: Change als Arbeit am System – nicht an den Personen
Viele Vorhaben leiden darunter, von Beginn an den Fokus falsch gesetzt zu haben. Üblicherweise ist die Intention flankierender Change-Maßnahmen, Menschen „mitzunehmen“ und „abzuholen“. Menschen als Bewahrer, Blockierer, Verhinderer. Selten lenkt man den Blick in Richtung Organisation, Prozesse, Strukturen. Das ist ein Fehler.
„94% der Probleme im Business sind System-getrieben, nur 6% sind Menschen-getrieben.“ Edwards W. Deming These macht darauf aufmerksam, dass Widerstand mit größter Wahrscheinlichkeit einen anderen Ursprung hat: Der Wurm steckt fast immer im System. Folglich liegt dort auch der Schlüssel zur Optimierung.
Wir sind es aber gewohnt, Widerstand mit einzelnen Personen zu assoziieren und ihn negativ zu bewerten. Statt nach solchen Widerständen zu suchen, wäre es meist wertvoller und effizienter, Fehler in der Umsetzung der Veränderungsvorhaben zu identifizieren – und diese Schritt für Schritt, Iteration für Iteration, zu beseitigen. Fehler gehören dazu, Fehler werden gemacht, aber aus Fehlern kann man lernen.
Gedanke 5: Weniger ist oft mehr – Prinzipien statt Regelkatalog
Die Idee der Selbstorganisation und -regulation liegt als einer der zentralen Anker dem Agilen Manifest zu Grunde. Und er ist einer der wesentlichen Gründe, warum sich agiles Arbeiten nachhaltig als ein erfolgreiches Vorgehensmodell im Projektkontext etabliert hat. Die vielzitierte VUCA-Welt ist alles andere als berechen- und vorhersehbar. Ihre Komplexität erlaubt keine einfachen Schlüsse zwischen Ursache und Wirkung
„Je mehr Regeln, desto weniger Vertrauen“
Eine Organisation, die sich weiterentwickeln und mit Blick auf Wertschöpfung und Effizienz ein neues Niveau erreichen möchte, sollte hier ansetzen. Transformationsvorhaben werden regelmäßig flankiert von neuen Maßnahmen, Vorschriften, Regulatorien, die Interaktionen und Prozesse optimieren sollen. Das hat zur Folge, dass mitunter immer neue Ebenen an Vorgaben und Arbeitsanweisungen entstehen und sich für den Einzelnen wie ein immer engeres Korsett anfühlen.
Mitarbeitende verlieren Freiraum, um ihre eigenen Fähigkeiten einzusetzen und sinnvoll auf unplanbare Situationen und Komplexität zu reagieren. Damit beschneiden sich Unternehmen – meist sogar ungewollt – ihrer größten Stärke: Den Mitarbeitenden.
Genau hier sind Prinzipien Regeln in unserer vielfältigen, flexiblen und ungewissen Welt überlegen, weil sie einerseits Leitplanken und Orientierungsrahmen bieten, ohne andererseits für alle Eventualitäten notwendige Schritte vorzugeben oder vorgeben zu wollen. Der große Vorteil: Prinzipien gelten immer auch für unvorhersehbare Ausnahmen.
Gedanke 6: Crossfunktionale/repräsentative Change Teams
In sozialen Systemen wie Unternehmen werden tiefgreifende Veränderungen nur erreicht, wenn die Mehrheit der Mitarbeitenden und Führungskräfte hinter diesen Veränderungen stehen. Top-Manager:innen gehen oft davon aus, dass insbesondere die Führungskräfte in ihrer Organisation die von ihnen beschlossenen und geplanten Veränderungen selbstverständlich mittragen. Das ist häufig nicht der Fall. Auch die Führungskräfte, aber vor allem die Mitarbeitenden müssen und möchten überzeugt werden.
Übliche Praxis ist oft, kleine wie große Veränderungen im Top-Management nicht nur anzustoßen, sondern auch direkt „durchzukonzipieren“. Hier wird vergessen, dass damit zwar eine ganz elementare Perspektive und Sicht des Unternehmens einfließt, aber eben auch nur diese eine. Und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, wesentliche Aspekte zu übersehen. Entsprechend hoch ist das Risiko der Nicht-Akzeptanz oder Ablehnung beim Ausrollen des Changes auf die Organisation.
So wie im agilen Ansatz der Idee verfolgt wird, mit crossfunktionalen Teams Themen von allen Seiten auszuleuchten und bestmögliche Lösungen zu finden, kann es sich lohnen, auch bei Change-Vorhaben mit Resonanzgruppen zu arbeiten.
Eine Resonanzgruppe ist eine gute Methode, um eine Organisation mit sich selbst ins Gespräch zu bringen. Sie nimmt die Resonanzen der Organisation, wie verdeckte Themen oder hinderliche Muster, auf, filtert und bearbeitet sie und gibt sie als Empfehlung oder Handlungsoption an die Organisation zurück. Immer mit der Absicht, ein vorgegebenes Ziel erreichen zu können. Denn allzu oft scheitern Veränderungsprozesse in Unternehmen an den Widerständen ihrer Organisationsmitglieder. Oft wirken diese Widerstände unbewusst und im Verborgenen. Manchmal sind sie auch bekannt – nur nicht bei der oberen Führungsebene.
Die einzig richtige Art mit Unsicherheit umzugehen ist, kommunizieren und kommunizieren.
Gedanke 7: Vertrauen ist die Basis – Es gibt immer Verlierer
Die einzig richtige Art, mit Unsicherheit umzugehen, ist, kommunizieren und kommunizieren. Mitarbeitende haben ein feines Gespür, ob in einer Organisation das Gesagte und das Gelebte zusammenpassen. Viel zu oft werden in Zielbildern großer Transformationen geradezu paradiesische Aussichten skizziert, in denen jeder einzelne Mitarbeitende profitieren würde. Und das, obwohl jeder weiß, dass es selbst bei besten Absichten neben den Profiteuren immer auch – mindestens gefühlt – Verlierer geben wird. Nur das, spricht man viel zu selten aus.
Dabei lohnt es sich, hier zu unterscheiden:
- Echte Verlierer sind die Personen im Unternehmen, für die mit die Veränderung – auch objektiv betrachtet – (große) Nachteile einhergehen werden. Sie wissen nicht, wie sie mit der Veränderung umgehen sollen.
- Als Privileg-Verlierer kann man die üblicherweise deutlich größere Gruppe an Personen bezeichnen, die im Unternehmen gewisse Privilegien genießen. Ihre Befürchtung ist es, dass sie durch die Transformation Gefahr laufen, diese zu verlieren. Sie bringen selten die wahren Gründe an, warum sie gegen die Veränderungen sind, sondern verlagern die Diskussion bewusst auf andere Themen.
- Schein-Verlierer: Ihre Unsicherheit und ihr Widerstand resultieren vor allem aus der Angst, ihre eigene Komfort-Zone verlassen zu müssen. Während sie wissen, was sie an der aktuellen Situation haben, können sie die Zukunft nicht einschätzen. Das bereitet ihnen Angst. In den Diskussionen stellen sie die Risiken in den Vordergrund – und übertreiben gerne.
Je offener eine Organisation damit umgeht und es auch nicht leugnet, umso gezielter kann sie auch diese Gruppen adressieren und den jeweiligen Widerständen begegnen. Im Idealfall können Bedenken ausgeräumt werden oder an entscheidenden Stellen nachjustiert werden. Menschen, die gehört werden und sich einbringen können, fühlen sich ernst genommen – aus Betroffenen werden so Beteiligte.
Fazit und Brückenschlag
Ähnlich wie in der operativen Abwicklung von Projekten lohnt es sich auch in Transformationen, existierende Muster und Mechanismen neu zu denken. Je komplexer Situationen oder Systeme sind, umso weniger sind Wechselwirkungen voraussehbar und damit planbar. Das gilt nochmal verstärkt, wenn es um Menschen und ihre Interaktionen geht. In der Konsequenz kann das – auch im Change – nur heißen, alles zu tun, um als Organisation möglichst schnell und gezielt zu reagieren und immer wieder aufs Neue „die Segel neu zu setzen“, um Kurs zu halten.
Helfen können dabei folgende Leitgedanken:
- MVC analog MVP
- Iterationen von Irritationen
- Fehlerkultur auch im Change
- Resonanzgruppen statt Crossfunktionale Teams
- Prinzipiengeleitete Selbstorganisation statt Regelkatalog
- Transparenz und Ehrlichkeit als vertrauensstiftende Basis
Transparenz kann schmerzhaft sein. Transparenz ist aber notwendig. Transparenz bildet Vertrauen. Ohne Vertrauen wird Change nicht gelingen.
Autor
Michael Hemmkeppler ist Managing Partner im Geschäftsbereich Versicherungswirtschaft. Seit mehr als zehn Jahren konzipiert und begleitet er die Einführung von Bestandssystemen. Als Verfechter agiler Prinzipien ist seine Arbeit in Transformationsprojekten von diesen geprägt.
Quellen
- https://nhawryluk.medium.com/creating-a-mvp-for-change-management-4d884edecced
- https://www.co-id.de/ffd-folge-17-prinzipien-statt-regeln/
- https://dynamikrobust.com/wp-content/uploads/2016/03/Denkzettel-2-Strategie-und-Plan.pdf
- https://www.praxisfeld.de/de/blog/articles/was-ist-eine-resonanzgruppe
- https://blog.wiwo.de/management/2016/03/06/typische-management-denkfeler-in-change-prozessen-gastbeitrag-von-management-coach-muellerschoen/
- http://www.vertrauen-aufbauen.de/vertrauen-veraenderung.php
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