Ein Teil von sich selbst zu opfern, kann das große Ganze oder sogar die eigene Existenz bewahren: Von der Attrappe einer Grabkammer, die Grabräuber täuscht, über die Sicherung, die schmilzt, um die angeschlossenen Geräte zu schützen, bis hin zum Schwanz einer Eidechse, der abbricht, damit sie vor dem Fressfeind fliehen kann. Auch Kollagen, das Protein, das in unserem Körper am häufigsten vorkommt, enthält Teile, die sich „opfern.“
Ein Schutzmechanismus für das Gewebe
Forschende der Gruppe Molekulare Biomechanik am Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) fanden nun heraus, wie das Aufbrechen schwacher Bindungen im Kollagengewebe dazu beiträgt, Verletzungen durch übermäßige Krafteinwirkung zu lokalisieren, die Auswirkungen auf das weitere Gewebe zu verringern und die Genesung zu fördern. Die in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlichte Arbeit beleuchtet die Bruchmechanismen von Kollagen, die für das Verständnis des Abbaus von Gewebe und der Alterung des Materials sowie für mögliche Fortschritte in der Gewebezüchtung von entscheidender Bedeutung sind.
„Anscheinend ist der biochemische Aufbau von Kollagen perfekt an mechanische Belastungen angepasst“, sagt Gruppenleiterin Frauke Gräter. „Wir haben Kollagen in Rattengewebe mit rechnerischen und experimentellen Techniken untersucht und unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass schwache Bindungen innerhalb der Verstrebungen in Kollagen schneller reißen als andere. Dies dient als Schutzmechanismus, lokalisiert die schädlichen chemischen und physikalischen Auswirkungen von Radikalen, die durch Risse verursacht werden, und unterstützt wahrscheinlich molekulare Erholungsprozesse.“
Kollagen: Das Protein, das uns zusammenhält
Kollagen macht etwa 30 Prozent aller Proteine im menschlichen Körper aus. Es verleiht den Knochen Festigkeit, der Haut Elastizität, den Organen Schutz, den Sehnen Flexibilität, hilft bei der Blutgerinnung und unterstützt das Wachstum neuer Zellen. Strukturell ähnelt Kollagen einer dreifach geflochtenen Helix: Drei Ketten von Aminosäuren sind miteinander verflochten und bilden ein starkes und starres Rückgrat. Jede Kollagenfaser enthält Tausende einzelner Moleküle, die versetzt angeordnet und durch Querverbindungen miteinander verbunden sind – das trägt zur mechanischen Stabilität des Kollagens bei. Bisher ging man davon aus, dass Kollagenvernetzungen bruchgefährdet sind, doch es gab wenig gesicherte Erkenntnisse darüber, an welchen Stellen die Verbindungen brechen oder warum gerade dort.
Kollagen-Proteine auf der Streckbank: Am Computer und im Experiment
Die HITS-Forschenden wollten diese Rätsel mithilfe von Computersimulationen in verschiedenen biologischen Maßstäben und unter verschiedenen mechanischen Kräften entschlüsseln. Sie validierten ihre Ergebnisse anhand von Gel-Elektrophorese- und Massenspektrometrie-Experimenten an Rattenschwänzen, Beugesehnen und Achillessehnen. Indem sie das Kollagen strengen Tests unterzogen, konnten sie spezifische Bruchstellen bestimmen. Sie beobachteten, wie sich die Kraft durch die komplexe hierarchische Struktur des Gewebes verteilt und wie seine chemischen Bindungen die Last tragen.
Die Querverbindungen in Kollagen bestehen aus zwei Armen, von denen einer schwächer ist als andere Bindungen im Kollagengewebe. Bei übermäßiger Krafteinwirkung reißt der schwächere Arm in der Regel zuerst. Dadurch wird die Kraft abgeleitet und die schädlichen Auswirkungen lokalisiert. Die Forschenden fanden heraus, dass in Bereichen des Kollagengewebes, in denen schwache Bindungen vorhanden sind, andere Bindungen mit größerer Wahrscheinlichkeit intakt bleiben, was die strukturelle Integrität des Kollagengewebes bewahrt. Dies gilt sowohl für die Querverbindungen als auch für den Hauptstrang des Kollagens.
Schwache Bindungen mit starker Wirkung
In früheren Arbeiten konnten die HITS-Forschenden zeigen, dass übermäßige mechanische Belastung von Kollagen zur Bildung von Radikalen führt, die wiederum Schäden und oxidativen Stress im Körper verursachen. „Unser neuesten Forschungsergebnisse zeigen, dass „sacrificial bonds“ in Kollagen eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Integrität des gesamten Materials aufrecht zu erhalten „, erklärt Benedikt Rennekamp, der Erstautor der Studie. „Da Kollagen ein Hauptbestandteil unseres Körpergewebes ist, können Forschende, indem sie diese Bruchstellen erkennen und besser verstehen, wertvolle Einblicke in die Mechanik von Kollagen gewinnen und möglicherweise Strategien entwickeln, um seine Widerstandsfähigkeit zu verbessern und Schäden zu mindern.“
Publikation:
Rennekamp, B., Karfusehr, C., Kurth, M. et al. Collagen breaks at weak sacrificial bonds taming its mechanoradicals. Nat Commun 14, 2075 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-37726-z
Das HITS (Heidelberger Institut für Theoretische Studien) wurde 2010 von dem Physiker und SAP-Mitbegründer Klaus Tschira (1940-2015) und der Klaus Tschira Stiftung als privates, gemeinnütziges Forschungsinstitut gegründet. Es betreibt Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Zu den Hauptforschungsrichtungen zählen komplexe Simulationen auf verschiedenen Skalen, Datenwissenschaft und -analyse sowie die Entwicklung rechnergestützter Tools für die Forschung. Die Anwendungsfelder reichen von der Molekularbiologie bis zur Astrophysik. Ein wesentliches Merkmal des Instituts ist die Interdisziplinarität, die in zahlreichen gruppen- und disziplinübergreifenden Projekten umgesetzt wird. Die Grundfinanzierung des HITS wird von der Klaus Tschira Stiftung bereitgestellt.
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