Bedrohte Wildtierarten sich selbst zu überlassen, führe nachweislich nicht zum Überleben einer bedrohten Tierart, wie das Beispiel des Sumatra-Nashorns und anderer Nashornarten zeigt, und ermögliche auch keine friedliche Koexistenz von Mensch und Tier. Dies werde am Beispiel des Farmer-Geparden-Konflikts in Namibia deutlich. Ohne einen aktiven Umgang mit Wildtieren sind Wildtierforschung, Wildtierrettung und -pflege, Wildtierschutz und die Lösung von Mensch-Tier-Konflikten nicht möglich, schließen die Expert:innen. Oftmals sind es gerade die großen Säugetiere, die in Konflikte involviert sind.
Der Art- und arbeitsschutzgerechte Umgang mit Wildtieren erfordert die Anwendung spezieller, hochkonzentrierter und sehr potenter Tierarzneimittel (https://www.vdz-zoos.org/presse/pressemitteilungen/17062021-zoos-weisen-tierarzneimittelgesetz-als-ungeeignet-zurueck), die in der klassischen Tiermedizin bei Haustieren oder landwirtschaftlichen Nutztieren nicht benötigt oder verwendet werden. Viele dieser Arzneimittel werden jedoch nicht in der EU produziert und sie können nur über Drittländer bezogen werden. Dies soll nach aktuellem Gesetzentwurf nicht mehr möglich sein, weil nur in der EU produzierte Produkte für die Tiermedizin erlaubt werden sollen. „Das neue Tierarzneimittelgesetz gefährdet damit massiv die Einheit von ‚guter tierärztlicher und wissenschaftlicher Praxis‘ und das Wohlergehen einer Vielzahl von Wildtierarten“, warnt Dr. Frank Göritz, leitender Tierarzt und Wissenschaftler am Leibniz-IZW. Eine schlechte oder unvollständige Narkose, besonders von großen Wildsäugetieren, gefährdet nicht nur die Gesundheit und das Leben von Tier (und Mensch), sondern führt auch zu Verfälschung von Forschungsergebnissen und unweigerlich zu einem „Therapienotstand“ in der Wildtiermedizin.
Unter Nutzung eines großen internationalen Netzwerkes von Wild- und Zootierärzten und aufgrund erteilter Ausnahmegenehmigungen des gültigen Arzneimittelgesetzes (z. B. §73, Abs. 2, Nr. 2 AMG) ist das Leibniz-IZW als Forschungs- und Ausbildungseinrichtung in der Lage, alle Wildtier-spezifischen Arzneimittel zu nutzen – bis jetzt. Wenn am 25.06.2021 der Bundestag die Novellierung des Arzneimittelgesetzes beschließt, wird adäquate Tiermedizin für Wildtiere in Deutschland nicht mehr gegeben sein. „Es ist unverantwortlich, dass Wildtierärzt:innen durch nationale Gesetze wider besseren Wissens entweder in den Dilettantismus oder gar in die Illegalität gedrängt werden“, kommentiert Göritz. „Nach internationalen Standards am Leibniz-IZW qualifizierte ausgebildete Wildtierärzt:innen werden zukünftig in eine Praxistätigkeit entlassen, in der sie ihr Wissen und ihr Können nicht anwenden dürfen. Mehr noch, durch die von der Bundesregierung geplanten inadäquaten Therapiemöglichkeiten werden sie das Wohl und die Gesundheit der Tiere unnötig gefährden. Darüber hinaus wird die international anerkannte Wildtierforschung des Leibniz-IZW dadurch massiv behindert“, erklärt Prof. Heribert Hofer, Direktor des Leibniz-IZW. Durch die Novellierung des Tierarzneimittelgesetzes – ohne die Option auf Ausnahmegenehmigungen – werden neben dem Leibniz-IZW auch alle deutschen Wildtierärzte und zahlreiche Natur- und Tierschutzorganisationen sowie zoologische Einrichtungen stark benachteiligt.
Die Wildtiermedizin ist ein sehr junger, sich rasant entwickelnder Wissenschaftszweig. Sie ist zum festen Bestandteil der modernen Wildtierforschung avanciert und damit eine Grundlage für die erfolgreiche Arbeit des Leibniz-IZW. Das Leibniz-IZW betreibt Forschung für den Artenschutz, indem es die Anpassungsfähigkeit von Wildtieren im globalen Wandel untersucht und ihre Überlebensfähigkeit durch neue Naturschutzkonzepte zu verbessern sucht. Dafür erarbeitet es unter anderem Managementpläne, um Mensch-Tier-Konflikte zu minimieren und zu vermeiden.
Neben seiner Wildtierforschung engagiert sich das IZW auch aktiv im internationalen Tierschutz. Mit der Anwendung neuer, spezies-optimierter Narkoseprotokolle und der Anwendung neuer Forschungsergebnisse trägt das Leibniz-IZW neben der Rettung von Wildtieren in Not in zahlreichen Ländern in Asien und dem Nahen Osten, vielfach in Zusammenarbeit mit Tierschutzorganisationen, zur Versachlichung des oftmals sehr emotional geführten öffentlichen Disputs und somit zur Entwicklung eines evidenzbasierten Wildtierschutzes bei.
„Es ist noch nicht zu spät, um auch in Zukunft die moderne Wildtiermedizin und -forschung und damit die im Grundgesetz verankerten Staatsziele des Tierschutzes und Artenschutzes zu unterstützen“, erklärt Dr. Gudrun Wibbelt, Tierschutzbeauftragte und Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW. Das Leibniz-IZW fordert daher dringend, die Entscheidung über das Inkrafttreten des neuen Tierarzneimittelgesetzes aufzuschieben und den fachlichen Diskurs fortzusetzen und für besondere Tiermedizin- und Forschungsbereiche Ausnahmeregelungen zu beschließen. Wie wir mit unseren Wildtieren umgehen, wird für die Lebensqualität zukünftiger Generationen mit entscheidend sein.
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